Derzeit nehme ich an einem parlamentarischen Austauschprogramm teil: Der Deutsche Bundestag vergibt jährlich an politisch interessierte, junge Hochschulabsolvent:innen aus inzwischen 50 Ländern weltweit das Internationale Parlaments-Stipendium (IPS). Dadurch haben wir derzeit einen jungen Kollegen aus der Türkei, Muhtesem Cevlik, im Team, der für den Zeitraum von drei Monaten als parlamentarischer Stipendiat Einblick in die Arbeit meines Bundestagsbüros nimmt. Anlässlich der aktuellen Wahlen in der Türkei habe ich ihn gebeten, einen Beitrag für diesen Newsletter zu schreiben, der die Hintergründe ein wenig beleuchtet. Viel Spaß bei der Lektüre!

Über die Wahlen in der Türkei

Von Muhtesem Cevlik

Am 14. Mai fanden in der Türkei gleichzeitig Parlaments- und Präsidentschaftswahlen statt, die sowohl von der Gesellschaft als auch von den Politikern mit Spannung erwartet wurden. Diese Wahl brachte jedoch eine Neuwahl hervor. Für die Präsidentschaftswahlen gilt in der Türkei ein Zwei-Runden-Wahlsystem. Dieses Jahr war es die Präsidentschaftswahl, bei der der Präsident vom Volk gewählt wurde. Zugleich war es das erste Mal, dass die Wahl in die zweite Runde ging. Damit sind die türkische Gesellschaft und die türkischen Politiker tatsächlich erstmals mit einer solchen Situation konfrontiert.

Die Wahlbeteiligung lag im ersten Wahlgang bei 87,04 Prozent. Der angegebene Wert ist damit der höchste seit 25 Jahren. Die Wahl sollte zwischen vier Präsidentschaftskandidaten ausgetragen werden. Allerdings hatte der Vorsitzende der Memleket Partei, Muharrem İnce, nur wenige Tage vor dem eigentlichen Wahlbeginn angekündigt, sich aus dem Rennen zurückzuziehen. Da der Abstimmungsprozess im Ausland jedoch bereits abgeschlossen war, erreichte Muharrem Ince dennoch 0,43 Prozent der Stimmen. 

Der amtierende Präsident Recep Tayyip Erdogan von der AKP erhielt 49,52 Prozent der Stimmen, der Kandidat der aus sechs Oppositionsparteien bestehenden Nationalen Allianz Kemal Kilicdaroglu kam auf 44,88 Prozent; der Kandidat der nationalistischen ATA-Allianz Sinan Ogan erreichte 5,17 Prozent. Da keiner der Kandidaten mehr als 50 Prozent der Stimmen erhielt, wurde eine zweite Wahlrunde auf den 28. Mai angesetzt. Bei dieser Stichwahl werden die beiden Kandidaten mit den meisten Stimmen in der ersten Wahlrunde, Amtsinhaber Recep Tayyip Erdogan und Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu, erneut zur Wahl gegeneinander antreten.


Bei der Parlamentswahl gelang es der Volksallianz aus AKP, MHP, YRP, BBP, mit 323 Abgeordneten die Mehrheit der Sitze zu gewinnen. Dass mehr als 300 Abgeordnete stellen kann, gereicht Recep Tayyip Erdogan zum Vorteil. Die Nationale Allianz erzielte mit dem Wahlergebnis 212 Sitze im Parlament. Innerhalb der Nationalen Allianz stieg die Zahl der CHP-Abgeordneten von bisher 146 auf 169 Mandate. Davon entfallen 39 auf Abgeordnete von Partnern der Allianz, die über die CHP-Listen an der Wahl teilgenommen haben. Die Zahl der CHP-Abgeordneten selbst verringerte sich von zuvor 146 auf 130. In der Allianz für Arbeit und Freiheit sank die Zahl der HDP-Abgeordneten von 67 auf 61. Die Arbeiter-Partei der Türkei (TIP) hingegen entsendet künftig 4 Abgeordneten.

Bei dieser Wahl steht die Türkei nach Ansicht der Wählerinnen und Wähler an einem Wendepunkt. Die Unterstützer der Regierungspartei AKP, ihrer Partner von der MHP, und von Präsident Erdogan vertreten die Auffassung, dass die Türkei in den letzten zwei Jahrzehnten wirtschaftlich, militärisch und in Bezug auf die Religionsfreiheit erhebliche Fortschritte gemacht hat. Sie behaupten, dass ein Wahlsieg des Oppositionskandidaten Kilicdaroglu die Religionsfreiheit einschränken und die Regierung zudem gemeinsam mit den Terrororganisationen PKK, YPG/PYD das Land spalten würde. Auf der anderen Seite hoffen viele Wählerinnen und Wähler auf einen politischen Wechsel für das Land, den sie als dringend nötig ansehen. Die oppositionellen Kräfte werfen der Regierung Korruption und Vetternwirtschaft vor, die zu vielen inkompetenten Verwaltungsbeamten geführt habe. Zudem stürze man das Land in eine wirtschaftliche Depression; ebenso würden die Meinungsfreiheit eingeschränkt und Menschenrechte missachtet.

Der drittplatzierte Präsidentschaftskandidat, der nationalistische Sinan Ogan, hat angekündigt, dass er bei der Stichwahl Recep Tayyip Erdogan unterschützen wird. Ogan kommt damit möglicherweise die Rolle des möglichen Königsmachers in der Stichwahl zwischen Erdogan und Kilicdaroglu zu, sofern es ihm gelingt, seine Wählerbasis zu konsolidieren. Ogans Wahlempfehlung könnte eventuell nur einen kleinen Teil seiner Wählerschaft mobilisieren, wenn eine Mehrheit am Wahltag zu Hause bleibt, weil sie weder Erdogan noch Kilicdaroglu unterstützen wollen.

Auch wenn Mehrheit der Wählern, die bei der ersten Runde Ogan abgestimmt haben, Kilicdaroglu unterstützen sollte, wird der übrige Teil der Stimmen ausreichen, um Erdogan die Wiederwahl zu sichern. Andererseits gab der Vorsitzende der Zafer Partei, Ümit Özdağ, bekannt, dass er sich entschieden habe, den Kandidaten der Opposition, Kilicdaroglu, bei der Stichwahl zu unterstützen. Er war während der ersten Runde mit Sinan Ogan im selben Bündnis, aber jetzt haben sich ihre Wege getrennt. In den Tagen vor dem Stichwahl versuchen nun beide Seiten weiterhin, die Wähler zu überzeugen, indem sie ihnen letzten Versprechen machen.